Freies selbstbetimmendes Spielen - Grundlage für schulische Fähigkeiten - prägt alle Sinne
Montag- und Mittwochnachmittag: Fußballtraining, Dienstag: Klavier- oder Gitarrenunterricht, Freitag: Kinderturnen. Dazu noch Schule, Hausaufgaben, lernen, eventuell Nachhilfe oder Lerntraining. Während es lobenswert ist, dass Kinder gefordert und gefördert werden, so bleibt doch eine wichtige Sache auf der Strecke.
Dr. Peter Gray ist Professor am Boston College
und er forscht über Spielverhalten früher und heute. Er betrachtet das Spielen aus biologisch-evolutionärer Perspektive. Er hat festgestellt, dass das Spiel für junge Tiere überlebenswichtig ist. So
lernen die Tiere, wie sie fit bleiben, wie sie miteinander auskommen, wie sie Risiken einschätzen können. Das sind alles Fähigkeiten, die sie brauchen, um als erwachsenes Tier zu überleben.
Bei Laboratorium-Experimenten hat man jungen Ratten die Möglichkeit genommen, zu spielen. Das Ergebnis: Die Ratten waren sozial und emotional gestört. Sie konnten neue Situationen nicht einschätzen,
sie hatten Angst vor anderen Ratten, sie reagierten oft aggressiv, usw.
Bei den Menschen ist es nicht anders. Anthropologische Teams haben Kinder
von verschiedenen Naturvölkern angeschaut. Die Kinder spielen den ganzen Tag: draußen, miteinander, ohne Erwachsene. Als die Anthropologen die Erwachsenen fragten, warum sie die Kinder den ganzen Tag
spielen lassen, antworteten diese, dass die Kinder so die Fähigkeiten lernen, die sie als Erwachsene brauchen.
Aber in den vergangenen 50 bis 60 Jahren ist die Möglichkeit für Kinder, frei und selbstbestimmt spielen zu können, ständig gesunken. Dr. Grays Forschungen beziehen sich auf Kinder in den USA, aber
die Entwicklungen lassen sich auch in Europa feststellen.
Warum spielen Kinder immer weniger?
Erstens, weil die schulischen Anforderungen immer mehr werden. Kinder sind länger in der Schule und auch zu Hause müssen sie noch Hausaufgaben machen und
lernen.
Zweitens, weil man denkt, dass Kinder am besten von Erwachsenen lernen. Wenn man heutzutage Kinder spielen sieht, stehen sie oft auf einem Sportplatz und bekommen Anweisungen von Erwachsenen,
was zu tun ist, was sie tun dürfen und was nicht.
Drittens, weil die irrationale Angst zugenommen hat. Hinter jedem Baum vermutet man Gefahren.
So wie die Zeit und Möglichkeiten zum Spielen abgenommen haben, so hat es
gleichzeitig einen Anstieg an mentalen Störungen bei Kindern gegeben: Angststörungen, Depressionen, Selbstmord. Kinder sind durchschnittlich auch viel gefühlskälter geworden, haben weniger Mitgefühl
für andere und sind weniger kreativ.
Dr. Gray sagt, dass eine Korrelation noch kein Beweis für Ursache und Effekt
ist, aber in diesem Fall gibt es keine andere Korrelation, die diese Entwicklung erklären könnte. Kinder sind heutzutage depressiver als vor 30 Jahren, Kinder sind heutzutage ängstlicher als während
des Kalten Krieges.
Aber warum ist spielen so wichtig? Wenn Kinder spielen, lernen sie, dass sie
ihr Leben selbst bestimmen können. Sie lernen, ihre eigenen Probleme zu lösen und lernen, dass die Welt nicht so gefährlich ist und sie können neue Situationen besser einschätzen. Sie lernen mit
anderen Kindern auszukommen und lernen so Empathie und Mitgefühl. Sie lernen auch, kreativ zu sein. Sie lernen, dass Spielen Spaß macht und dass das Leben doch nicht so deprimierend
ist.
Aber wonach schreien alle? Dass die Kinder noch mehr zur Schule gehen sollen!
Dr. Gray meint, dass die Kinder nicht noch mehr Schule brauchen, sondern dass sie eventuell ein besseres Schulsystem brauchen (eins, das mehr Möglichkeiten zum Spielen bietet) und vor
allem, dass die Kinder mehr Zeit und Platz zum echten Spielen brauchen: draußen, miteinander, ohne Erwachsene.
Dr. Gray gehört nicht zu denjenigen, die die gute alte Zeit verherrlichen. Er ist auch nicht der Meinung, dass wir Kinder mit ihren Problemen alleine lassen sollen. Natürlich sollten wir Kinder fordern und fördern. Er ist auch nicht der Meinung, dass wir Kinder von iPads und Computern und Büchern fernhalten sollen. Dr. Gray plädiert dafür, dass die Erwachsenen Kinder einfach mehr spielen lassen sollen, damit die Kinder sich zu selbstbewussten, kreativen, mitfühlenden Menschen entwickeln können. Wir finden, dass Dr. Gray recht hat und wir wünschen, dass auch Kinder hierzulande einfach wieder mehr spielen dürfen.
Auszug Zeitschrift
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